Vivat Polonia!

Autodiebe, Pilzplünderer, schlampige Arbeiter, ungebildet…
Die Reihe der noch heute, noch jetzt unter keineswegs Ungebildeten grassierenden Vorurteile gegen Polen läßt sich sicher noch fortsetzen.

Nachdem ich in einer Diskussion derartige Vorurteile von explizit atheistischer Seite präsentiert bekam und sie von explizit christlicher Seite verteidigt wurden, habe ich mich entschlossen, auf diesen explizit katholischen Seiten ab und zu etwas über Polen zu veröffentlichen.

Ich war zum ersten Mal in Polen als etwa zwölfjähriges Mädchen, in Kal, einem Weiler in Węgorzewo, Wojwodschaft Suwałki, in Masuren. Kal bestand aus drei Höfen, keinen Kolchoshöfen, sondern die auch während des Sozialismus in Polen vorhandenen kleinen Höfe, deren Bauern die Regierung lästig fanden und in der Kirche beheimatet waren.
Fließendes Wasser hatte der Weiler nur aus einer Pumpe. Auf der anderen Seite der Dorfstraße lag der riesige, glasklare, stille Mauersee. Ich schwamm jeden Tag. In den Wäldern der Gegend sammelten wir eimerweise Walderdbeeren und Blaubeeren. Es war märchenhaft.
Meine Eltern waren noch oft in Kal. Es war immer schön – und zwischen meinem Vater und dem Bauern war eine tiefe Freundschaft gewachsen.

1985 schrieb mein Vater über seine Eindrücke von Kal. (Seine damals realistisch scheinende düstere Prognose bezüglich der Umweltzerstörung hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet; Masuren wird liebevoll bewahrt.)

Bei den Prußen, auf dem Dorf


Wenn ich heute in Masuren bin, und ich bin oft dort, dann ist das immer noch meine Heimat, ist so schön wie je und an vielen Stellen noch schöner, weil noch einsamer und stiller, dann sehe ich dort solche Gesichter wie früher, nur die Kirchen haben keine evangelischen Emporen mehr, sondern katholische Gipsmadonnen und Heilige, sind im übrigen wohl gehalten und zur Messe bis zum Vorplatz überfüllt, Veranstaltungen des Staates bleiben fast unsichtbar; an dem Sonntag vor zwei Jahren, als die Militärgesetze aufgehoben wurden, als die ganze Welt gespannt auf Polen starrte, haben wir um Schwenzeit- und Mauersee herum nichts davon gemerkt, man ging zur Kirche, fuhr Boot und angelte wie immer, denn dieses Land – ich spreche von Masuren – ist katholisch und polnisch und wem’s nicht gesagt wird, der merkt nicht, daß es kommunistisch ist, außer man hat sein Messer zu Hause vergessen und will in der Stadt eines kaufen und kriegt weder ein Tisch- noch ein Küchen- noch sonst irgendein Messer, weil dergleichen in der Wirtschaftsordnung nicht vorgesehen ist…
„Bei uns“ – wir wohnen fast in jedem Jahr im gleichen kleinen Dorf auf einer schmalen Halbinsel sechs Kilometer von Angerburg (heute Wegorszewo); in der Stadt bin ich einmal ein Jahr lang zur Schule gegangen, bis man uns wegen gegenseitiger unüberwindlicher Abneigung schied.
In diesem Dorf leben Kleinbauern und Fischer, Heimatvertriebene aus der ehemals polnischen, jetzt russischen Ukraine, und wir sehen schon seit zehn Jahren die Enkel dieser Emigranten dort aufwachsen, paradiesisch aufwachsen am flachen Seeufer, das, nur von einer kopfsteingepflasterten Dorfstraße getrennt, dicht bei den Häusern liegt. Dort planschen sie unbehelligt von ängstlichen Müttern zwischen Enten und Gänsen, Haubentauchern und Bleßhühnern, schwimmen aber ebenso wie die Erwachsenen nicht sonderlich geschickt, selten sieht man Polen weit hinausschwimmen, Segeln, Rudern und Angeln ist aber allen früh vertraut.
Die Häuser des kleinen Dorfes stehen nur auf einer Straßenseite, die andere ist Schilfufer – bei uns sagte man dazu „da werden die Flinsen bloß auf eine Seit‘ gebraten“. Es ist Großmutters Märchenland mit kleinen Höfen, zwei, drei Kühen, zwei Pferden und Schweinen, mit frischgelegten Eiern zum Frühstück, Milch direkt aus der Kuh von der Weide und Fischen zum Mittag, mit denen man am Morgen noch zusammen geschwommen ist.
Gewiß – wir genießen die Abwesenheit von Touristen, Komfort und Zeitungen mit etwas schlechtem Gewissen, weil wir damit ja die polnische „Armut“ genießen, die blicken ja alle sehnsuchtsvoll nach Deutschland, womit sie Westdeutschland mit der D-Mark meinen, und hätten gern mehr Autos, Motorboote, Jeans und Kaffee, und sie werden es eines Tages ja auch haben und dann dieses schöne Land ebenso zerstören wie wir das unsere.
Jägerhöhe, ein Soldatenfriedhof aus dem ersten Weltkrieg und früher ein beliebter Ausflugsort, von dem aus man mit dem Dampfer die masurische Seenplatte bis Nikolaiken durchfuhr – ich kenne es seit sechzig Jahren -, ist eine Moräne mit unvergleichlicher Aussicht über Seen, Buchten, Inseln und Wälder, man blickt wie auf Archipele herab – dort traf ich einmal „Kinder aus meiner Klasse“, und wir standen eine Weile stumm und angerührt, bis eines der Mädchen – also eine sechzigjährige Frau – sagte: „Wie gut hat es doch der liebe Gott mit unserem Ostpreußen gemeint, daß er es den Polen gegeben hat. – Stellt euch mal vor, das wäre unsers geblieben, dann wäre hier unten eine Autobahn, rings herum Bungalows und auf dem See fünfhundert Motorboote.“ Und alle die sechs oder sieben „Heimwehtouristen“ stimmten stumm zu.

Für den deutschen Besucher in Polen ist es nun erstaunlich, daß ihm nie Haß begegnet. Freilich, mancher wird uns aus dem Weg gehen, aber im Allgemeinen begegnet man nur Freundlichkeit und in einem Ausmaße, das berühmteren Reiseländern fremd ist, Sicherheit und Ehrlichkeit. Wir sind niemals betrogen worden und können unser Auto, wo immer wir wollen, stehen lassen, um viele Stunden zu wandern. Meine Frau muß im Rollstuhl sitzen, und für uns ist Masuren als Wanderland ideal. Vorzüglich gehaltene Chausseen mit alten Bäumen führen durch zauberhaft einsame Landschaften, und man begegnet in halben Tagen drei oder vier Autos. Störche, Reiher, Kraniche, Weihen und Adler, manchmal sogar ein schwarzer Storch, übertreffen jedes Kurortprogramm. In den Wäldern vollends kann man den ganzen Tag allein sein, Erdbeeren, Blaubeeren und Pilze sammeln, und auf den Seen sind Motorboote noch selten (die Dichte auf dem Wannsee beträgt etwa das Hundertfache). Noch sind die Schilfgürtel intakt, aber leider gehen die polnischen Wassersportler nicht gut damit um, sie können noch nicht denken, daß sie mit dem Hereinfahren ins Schilf etwas zerstören.
Masuren ist nach wie vor ein Bauernland, die Kollektivierung wurde bis auf die großen Güter rückgängig gemacht, und die sind bis auf wenige Ausnahmen in einem erbärmlichen Zustand. Die Polen sind zu sehr Individualisten, um sich mit organisierter Landwirtschaft abfinden zu können, anders als in der DDR, wo es nach schlimmen Anfängen offenbar wohl gelungen ist. Die idyllischen Höfchen mit ihren farbenprächtigen, von drei Meter hohen Malven umzäunten Bauerngärtlein können ein modernes Industrieland nicht ernähren. In den Staatsgütern baut man für die Landarbeiter Fertigbauhäuser, die hier für Asylanten nicht zulässig wären und vor die niemand eine Blume pflanzt, dort scheint auch der Wodka die einzige Freizeitbeschäftigung zu sein, wie denn der Alkoholismus in den letzten Jahren heftig zugenommen hat. Kleinstädte kann man am Samstagnachmittag nur im Schrittempo passieren, weil die männliche Bevölkerung über die Straße torkelt. In „unserm“ Dorf habe ich nie Betrunkene gesehen, bei gelegentlichen Familienfesten vorm Haus am Seeufer sitzt man ums Feuer herum, ißt gebratene Fische, trinkt mäßig, und wenn man danach Auto fahren will, gar nicht. Im ganzen hat man den Eindruck, daß alles, was privat ist, mit heiterer Gelassenheit funktioniert, alles, was der Staat befiehlt, gemieden wird.

Besonders ärgerlich ist der unverständliche Mangel an Werkzeug und Material bei diesem handwerklich so hochbegabten Volk. Wenn unser Bauer eine Hacke brauchte, dann mußte er sie sich in anderthalb Tagen aus einem alten Sägeblatt herstellen, bewundernswert perfekt, und sein Kabel zur Kreissäge stammt noch aus Hitlers Wolfsschanze in der Nähe. Wer nach Polen fährt, der sollte seinen Freunden nicht nur Kaffee, sondern auch gutes Werkzeug, Nägel und Schrauben mitbringen. Freilich, ein englischer Edelstahlspaten, den ich mitbrachte, hängt noch nach fünf Jahren unbenutzt in der Werkstatt – er ist einfach zu schön.
Masuren ist nicht das ganze Polen, ich kenne zu wenig davon, um über Polen zu sprechen, ich spreche nur über meine Heimat und über die Menschen, deren Heimat dieses Land durch unsere Schuld geworden ist und die deshalb meine Landsleute sind. …

© Sperlich, Berlin

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Über Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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Eine Antwort zu Vivat Polonia!

  1. akinom schreibt:

    Schönheit von Schöpfung, Natur und Heimat ist offenbar eine Quelle „lebendigen Wassers“ für Sie, Frau Sperlich. Ich habe mich dagegen immer als „gesamtdeutsch“ bezeichnet. Und das Wort Heimat war für mich immer ein Fremdwort bis ich mit meinem Mann vor 2 Jahren nach Dülmen gezogen bin, wo meine Wurzeln sind. Ich hätte nie gedacht, dass diese so deutlich spürbar sind.

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