Köln und das Ende der Religionsfreiheit

Das Landgericht Köln hat die Beschneidung von Jungen für illegal erklärt. Auch wenn Auslöser des Urteils ein moslemischer Junge war, ist die erste Konsequenz, daß im Wirkungskreis des LG Köln wohnhafte Juden ihre Söhne nicht mehr als Juden aufwachsen lassen dürfen.

Josef Bordat hat hier und hier und hier darüber geschrieben, und ich kann die Artikel nur empfehlen.

Ich kann nur hoffen und beten, daß andere Landgerichte diesem Urteil nicht folgen. Damit es in Zukunft wenigstens außerhalb von Köln noch Judentum gibt.

Über Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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18 Antworten zu Köln und das Ende der Religionsfreiheit

  1. liisa schreibt:

    Die Crux an der Geschichte ist natürlich, dass es Bestandteile von Religionsausübungen gibt, die höchst bedenklich sind. Einfach nur zu sagen „Es ist Teil einer Religion, also muss es hingenommen und darf nicht verboten werden“ löst das Problem nicht. Mag die Beschneidung von Jungen im Islam und Judentum neben der religiösen Bedeutung auch unter gesundheitlich-hygienischen Gründen Sinn machen, stellt sich die Frage schon ganz anders, wenn es um Beschneidung von Mädchen/Frauen geht – auch im Namen der Religion. Erlaube ich das eine, muss ich auch das andere erlauben … weil eben Religionsfreiheit … oder?? Vertrete ich hingegen, dass die Religionsfreiheit und Ausübung von Religion in all ihren Ausprägungen unbedingt zu wahren ist, darf ich nichts mehr verbieten, was als Bestandteil von Religion bezeichnet wird: Frauenbeschneidung, Schächten oder Opferung von Tieren oder im Falle von streng fundamentalistisch glaubenden Moslems die Anwendung der Scharia samt ihrer teils drastischen Strafen für Gesetzesübertreter (denn solche Muslime unterwerfen sich eben nur bzw. vorangig dem islamischen Gesetz). Erlaubt ein Gericht eine religiöse Handlung wie in diesem Fall z.B. die Beschneidung schafft sie damit zugleich einen Präzidenzfall, auf den sich andere später berufen können. Es ist nicht ganz so einfach, wie es zu sein scheint, weil es eben kein klares schwarz-weiß gibt.

  2. Claudia Sperlich schreibt:

    Das macht es in der Tat schwierig. Was die Scharia angeht, so ist ihr juristisch recht einfach beizukommen – Justiz obliegt der Justizbehörde und sonst niemandem. (Daß sie praktisch ohne Wissen der Justizbehörden angewandt wird, ist ein anderes Problem.)
    Im übrigen ist ja weibliche Beschneidung immer eine Verstümmelung, Vorhautbeschneidung nicht (ich glaube kaum, daß Männer, die als Jungs wegen einer Phimose beschnitten wurden, sich als „verstümmelt“ ansehen). Da gilt dann Güterabwägung. Und die ist – wie man in Köln gesehen hat – Interpretationssache; es kommt auf den Richter an, was dabei herauskommt.

  3. liisa schreibt:

    Letztlich läuft es auf die alte (aber an vielen Stellen in der Welt hoch aktuelle) Frage hinaus, ob säkulares Recht oder religiöses Recht gilt bzw. gelten soll. Hat sich das säkulare Recht dem religiösen Recht unterzuordnen oder umgekehrt? Wer die These vertritt „Gott (egal wer damit in welcher Religion gemeint ist) ist der höchste Richter“, wird sich säkularer Rechtsprechung im Ernstfall verweigern, um nicht im religiösen Sinne „schuldig gegen Gott“ zu werden. Sprich, dann wird lieber in Kauf genommen im Sinne des weltlichen Rechts „schuldig“ zu werden, weil es als geringeres Übel angenommen wird.

  4. Claudia Sperlich schreibt:

    Das wird umso häufiger der Fall sein, je mehr Religion durch weltliche Gesetze zurückgedrängt und ihre Ausübung erschwert wird – also je weniger Religionsfreiheit es gibt.

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  6. Frau Momo schreibt:

    Ich sehe das Urteil mit gemischten Gefühlen. Aber vom Ende der Religionsfreiheit würde ich nun nicht sprechen. Ich kann das Urteil schon nachvollziehen, als Juristin und finde es auch folgerichtig. Wobei sich dann ja auch fast die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Taufe stellt, wenn sie im Säuglingsalter durchgeführt wird. Streng genommen verstößt sie gegen das Selbstbestimmungsrecht.
    Das ist ein heißes Eisen. Moslime und Juden, die an diesem Ritualt festhalten wollen, können sich natürlich weiter auf medizinisch-hygiensche Gründe berufen und damit das Urteil umgehen, aber das ist ein Spiel, das der Religion nicht würdig ist.
    Ich habe keine abschließende Meinung dazu, zumal ich da in einem Zwiespalt stecke.. Juristin und evangelische Christin.

  7. Chrysostomus schreibt:

    Ich finde das Urteil richtig! Es ist nicht nur Körperverletzung, für die es keine oder allenfalls eine fadenscheinige medizinische Begründung gibt, es ist auch wegen der körperlichen Schmerzen (die Amputation wird OHNE Narkose durchgeführt) eine seelische Qual. Es ist schlicht eine Folter, deren Akzeptanz erst die Religionszugehörigkeirt ermöglicht. Was muß hier für ein grausames Gottesbild vorhanden sein!
    Der Vergleich mit der Taufe hinkt massiv: Die Taufe hinterläßt keine körperlichen Spuren und keine physische und psychische Qualen. Wenn ein Getaufter später seine Religion verlassen will, kann er das ohne Weiteres. Er kann alles Christliche ablegen. Ein Mann, der den Islam verlassen hat, wird Zeit seines Lebens an diese gut sichtbare Verstümmelung erinnert. Hier geht es um Macht, um machtvolles Hineinzwingen in eine Religion.
    Von daher verstehe ich auch die Solidaritätsadresse der Bischöfe nicht. Wenn religiöse Bräuche grausam sind, hat der Staat sogar die Pflicht, diese zu verbieten. Zudem ist die Beschneidung im Koran gar nicht gefordert. Sie steht ungefähr auf derselben Verbindlichkeitsstufe, nämlich, daß es Sitte und Tradition ist, wie die schöne Sitte, Ehebrecherinnen leider leider steinigen zu müssen. Zudem: Gegen die Beschneidung der Frauen ziehen alle berechtigterweise zu Felde. Diese ist aber in gewissen Gesellschaften genauso pseudoreligiös begründete „Sitte“ wie die Beschneidung des Mannes. Und die Behauptung, Frauenbeschneidung sei schlimmer, kann doch nicht dazu führen, daß die vielleicht ein Quäntchen weniger schlimme Beschneidung des Mannes erlaubt sein muß.
    Einen erhellenden Artikel aus muslimischem Milieu findet sich hier: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article107288230/Die-Beschneidung-ein-unnuetzes-Opfer-fuer-Allah.html

  8. Claudia Sperlich schreibt:

    Chrysostome, vielleicht wäre es sinnvoll, den verlinkten Artikeln von Bordat wirklich mal nachzugehen. Er erklärt gut, was ich nur kurz angedeutet habe.

  9. Wolfram schreibt:

    Ich habe zwar auch die verlinkten Artikel nicht gelesen – aber im Text stand nicht „Islam“; sondern es war von Juden die Rede.
    Und da ist die religiöse Vorgabe schon ziemlich eindeutig.
    Wobei es aus dem Judentum auch keinen Ausstieg gibt, als Jude wird man geboren und wird man eines Tages auch sterben.
    Meines Wissens kann die jüdische Beschneidung durchaus unter Narkose vorgenommen werden, und nichts verbietet einem Mohel, zugelassener Kinderarzt zu sein…
    Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, daß man über die „Verstümmelung“ auch bei einer Beschneidung (die Klitorisverstümmelung so zu bezeichnen, ist ein propagandistischer Euphemismus und wird der Sache nicht annähernd gerecht) geteilter Meinung sein kann; immerhin aber wird das männliche Genital dadurch in seiner Funktionalität nicht oder nur unmaßgeblich beeinträchtigt. (Es heißt, Beschnittene „könnten länger“, aus Gründen, die hier nicht erörter werden sollen; aber vielleicht ist das auch nur Legende.)

  10. Chrysostomus schreibt:

    Die verlinkten Artikel habe ich wohl gelesen. Bordat stellt die Freiheit der Religionsausübung über die körperliche Únversehrtheit und auch über das Folterverbot. Das halte ich für problematisch.
    Denn die Beschneidung ohne Narkose ist schlicht Folter. Es wundert mich schon, daß nirgendwo die Schmerzen der betroffenen Kinder diskutiert werden. Ich bringe jetzt mit Absicht einen drastischen Vergleich: Keinem Tier darf bei uns irgendein Körperteil ohne Narkose kupiert werden. Es ist ein Offizialdelikt und muß auch ohne Anzeige verfolgt werden, sobald eine Behörde davon erfährt. Aber ein Kind soll solche Schmerzen um der Religionsfreiheit seiner Eltern Willen aushalten müssen?
    Da werden große Debatten geführt, doch die Frage, wie es den kleinen Kindern dabei geht, interessiert anscheinend keinen. Das finde ich schon zynisch.
    Interessant hierbei ist ein Kommentar von Henryk Broder, der immerhin selber Jude ist: http://www.welt.de/kultur/article107299253/Pornografische-Debatte-mit-maximaler-Erregung.html
    Daraus möchte ich nur einen Satz zitieren: „Und würden die in Deutschland lebenden Hindus … den Wunsch äußern, ihre Witwen verbrennen zu dürfen und dies mit dem Hinweis auf eine lange religiöse Tradition begründen, würde man ihnen umgehend die Grenzen der religiösen Toleranz klar machen.“
    Was mich auch irritiert, ist die immer wieder zu lesende Angst, der „Trend“ könnte aufs Christentum überschwappen und die Kindertaufe könnte irgendwann untersagt werden. Das halte ich für sehr weit hergeholt. Die Taufe ist kein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, noch hat sie körperliche oder seelische Qualen zur Folge. Und das grundsätzliche Recht der Eltern, ihre Kinder zu religiösen Vorstellungen zu erziehen ist überhaupt nicht bedroht.

    • Wolfram schreibt:

      CHrysostomus, ich frage nun noch einmal ganz konkret und deutlich: woher nimmst du „Beschneidung ohne Betäubung“? Welche Religion schreibt das in welchem Kodex vor?

      Henryk Broder ist allerdings für das Judentum ungefähr so repräsentativ wie KH Deschner für das Christentum…

  11. Claudia Sperlich schreibt:

    Drei höchst lesenswerte Artikel aus jüdischer Sicht:
    http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/205.html
    http://www.hagalil.com/archiv/2012/06/28/beschneidung-4/
    http://www.hagalil.com/archiv/2012/06/26/koelner-urteil/

    Nebenbei sind die relevanten Schmerznerven bei einem achttägigen Säugling noch kaum ausgebildet. In der Tat ist im Islam, wo in der Regel Knaben im Alter von sieben bis zehn Jahren beschnitten werden, die Aktion mit mehr Schmerzen verbunden.

    Zuletzt hier noch eine Urologin zum Thema Beschneidung:
    http://www.urologenportal.de/beschneidung.html#c275

  12. Chrysostomus schreibt:

    Wolfram, wenn Du diesen Link ( http://www.welt.de/debatte/kommentare/article107288230/Die-Beschneidung-ein-unnuetzes-Opfer-fuer-Allah.html ) gelesen hättest, wüßtest Du es. Hier drei Zitate aus diesem Text:
    „Auch meine Schwester hat ihre Söhne beschneiden lassen, weil es Brauch und Tradition ist. Unbeschnittene Jungen werden in der türkischen Gesellschaft nicht akzeptiert, die Beschneidung gehört zum Muslimsein und unauflöslich zur männlichen Identität. Und diese gewinnt nur, wer Schmerzen ertragen kann.“

    „Die Beschneidung ist eine Probe in Tapferkeit und Stoizismus; es wird keinerlei Betäubungsmittel verwendet; ein Mann muss sie schweigend ertragen.“ Im „kritischen Augenblick“, so Mandela, war der Schmerz „so intensiv, dass ich mein Kinn gegen meine Brust presste. Viele Sekunden schienen zu vergehen, bevor ich mich an den Ausruf erinnerte; dann war ich wieder bei mir und rief ,Ndiyindola!‘ (Ich bin ein Mann!).“

    “ Mein kleiner neunjähriger Neffe, der tagelang breitbeinig mit einem weit vom Körper gehaltenen Nachthemd zwischen den Frauen herumlief, entsprach so gar nicht dem männlich-heroischen Bild, das mit der Beschneidung verbunden wird.
    Das war kein „Held“, der da auf unsicheren Beinen durch die Gegend wankte, sondern ein gepeinigtes Menschenkind. Zu einer Zeit, wenn der Heranwachsende vielleicht gerade anfängt, seinen Körper zu entdecken, einen eigenen Willen und eigene Vorstellungen vom Leben zu entwickeln, wird seine Persönlichkeitsentwicklung durch eine Lektion gebrochen, die er ohne jede Erklärung erteilt bekommt – dass er sich zu fügen hat, wenn die Erwachsenen ihm Schmerz zufügen, dass Gott ihm Prüfungen auferlegt, die es zu bestehen gilt, oder er ist ein Nichts, weder Muslim noch Mann, noch Teil der Gemeinschaft.“

    Die Info der Urologin halte ich für zynisch. Wenn die Schmerzen doch „erträglich“ sind, wieso empfiehlt sie dann doch schmerzdämpfende Mittel? Vielleicht sollte man da doch lieber Betroffene fragen, als Ärzte, die solche „Diensleistungen“ gerne verkaufen möchten. Die gesundheitlichen Argumente für eine Beschneidung sind inzwischen auch medizinisch überholt.
    Und ob Broder gerne als der Deschner des Judentums bezeichnet werden möchte? Deschner bekämpft das Christentum. Broder ist vielleicht ein liberaler Jude, aber sicher keiner, der das Judentum bekämpft – im Gegenteil.

    • Wolfram schreibt:

      Chrysostomus, den Verweis von Broder auf Deschner strapazierst du über. Aber meinetwegen, ich nehme Deschner zurück und setze Drewermann an seine Stelle. Paßt das besser?

      Nächster Stolperstein: du zitierst Aussagen einer Publizistin über populäre Ansichten, die keiner geltenden Lehre des Islam entsprechen. Necla Kelek kann m.E. nicht für sich in Anspruch nehmen, als Autorität des Islam zu sprechen.
      Und was sie zitiert, entspricht m.E. ungefähr so sehr dem Islam wie es der katholischen Lehre entspricht, Heilige anzubeten und um persönliches Eingreifen zu bitten – das ist nämlich purer Volksglaube, während die vatikanische Lehre die Heiligenanrufung versteht wie das Einschalten eines Fürsprechers; tatsächlich in das Leben eines Menschen eingreifen kann aber nur Gott selbst. Was der Heiligenanrufung speziell im Mittelmeerraum aber keine Grenzen zu setzen vermag…

      Die Aussage der Urologin zur Schmerzempfindlichkeit scheint mir wie dir ziemlich überholt. Sowas dachte man vor 30 Jahren, das sollte aber mindestens schon zur Geburt meiner Kinder als überholt abgelegt worden sein.
      Im Judentum gibt es aber meines Wissens keine Einwände gegen Anästhesie bei der Beschneidung – und die Ansicht, Abraham hätte sich selbst mit der Axt beschnitten, ist mir aus jüdischen Schriften ebenfalls unbekannt.

      Bedenklich ist an diesem Urteil, daß am deutschen Wesen mal wieder die Welt genesen soll – und daß es Öl auf das Feuer derer ist, die ohnehin schon der ANsicht sind, Juden könnten in Deutschland nicht auf Dauer leben.

  13. Chrysostomus schreibt:

    Noch ein kleiner Nachtrag zur Frage der Schmerzfähigkeit eines Säuglings: Selbstverständlich hat ein Säugling dieselbe Fähigkeit, Schmerzen zu Empfinden wie jeder Mensch. Lesenswerte Infos gibt es hier:
    http://www.handbuch.arque.de/web/Schmerzen+bei+Neugeborenen+und+Saeuglingen+-+erkennen.html
    Ich glaube, man tut der Religionsfreiheit keinen guten Dienst, wenn man sie meint retten zu müssen, indem man ihre Schattenseiten verharmlost. Würde man das Erwachsenen antun, hätte sich die Sache schon lange erledigt.

  14. Chrysostomus schreibt:

    Lieber Wolfram, es ist völlig unerheblich, ob das der geltenden Lehre des Islam entspricht. Das tut diese Praxis wohl tatsächlich nicht, wobei ich mich dann frage, warum sie nun so schrecklich verteidigt wird, wenn sie nicht explizit gefordert wird.
    Von Relevanz ist aber, was tatsächlich geschieht, unabhängig davon, ob und wer Solches fordert. Wenn sich die Praktikanten dieser Religionsausübung darauf verständigen können, solche Dinge im gesamten Verlauf garantiert schmerzfrei durchzuführen, sieht es etwas anders aus. Ich fürchte aber, daß gerade das nicht garantiert wird. Wie wenig Interesse am Schmerzthema besteht, zeigt ja die ganze öffentliche Diskussion. Es geht immer nur ums Hehre, Große und Ganze – aber nie um gemarterte Menschen. Und wäre es so eine große Zumutung, diese Riten auf einen Termin nach der Volljährigkeit zu verschieben?
    Mich treibt dieses Thema, deshalb um, weil ich in meiner Kindheit krankheitsbedingt, schmerzhafte Therapien erdulden mußte. Solche Erinnerungen brennen sich in die Seele ein. Die dringende Notwendigkeit war mir in diesem Alter nicht wirklich bewußt, wohl aber der elterliche Zwang, mich dem fügen zu müssen. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie sehr so etwas das Vertrauen in die Eltern, von denen man Schutz vor Qualen erhofft, erschüttern kann.
    Gleichzeitig fehlt mir in der Diskussion noch ein Punkt, ein ganz entscheidender: Mit und durch Christus haben wir erfahren, daß Gott all diese Opfer nicht braucht. Sie sind gegenstandslos geworden durch die Menschwerdung Gottes. Wäre es nicht angemessener, darauf zu verweisen, daß das unüberbietbare Heilsangebot Gottes in der Taufe besteht und nicht in archaischen Sitten? Vor lauter Toleranz und Solidarität vergessen wir unseren Missionsauftrag.
    Hinsichtlich der elterlichen Freiheit der Religionsausübung kennen wir im Übrigen eine ganz regelmäßig stattfindende Einschränkung dieses Elternrechtes. Nämlich dann, wenn ein Kind der Zeugen Jehovas eine Bluttransfusion braucht. Dann wird ganz schnell das elterliche Sorgerecht vom Gericht vorübergehend suspendiert, damit das Leben des Kindes gerettet werden kann. Nun sind die Zeugen Jehovas eine kleine, gesellschaftlich eher defensive, Minderheit, die kein Erregungspotential ihr eigen nennt und die man oft gar nicht wirklich ernst nimmt. Ist das der Grund, warum es hier keine Solidaritätsadressen zu Gunsten IHRER Religionsfreiheit gibt? Vor dem Recht müssten alle gleich sein und auch deshalb finde ich dieses Urteil richtig.

    • Wolfram schreibt:

      Ich hoffe doch sehr, daß wir beide die Auffassung teilen, daß ein Gottesstaat nicht erstrebenswert ist. Und daß Gerichtsurteile als missionarisches Mittel nicht recht taugen – auch das höre ich aus Paulus‘ „Der Buchstabe des Gesetzes tötet, aber der Geist macht lebendig“.
      Was die Parallelsetzung der Beschneidung mit der Verweigerung einer Bluttransfusion angeht, so akzeptiere ich sie insoweit, als ich jede Beschneidung, die das Leben des Beschnittenen in Gefahr bringt, unmißverständlich ablehne. (So wie auch Beschneidungen, die unsachgemäß, beispielsweise mit Glasscherben, durchgeführt werden, oder ohne angemessene Anästhesie.) Die Kultfreiheit hat unbestritten ihre Grenze, wo das Leben eines Menschen bedroht ist; das schließt in meinen Augen auch die, in manchen Gegenden Osteuropas bis heute praktizierte, Immersionstaufe aller Neugeborenen in ungeheizten Kirchen und eiskaltem Wasser aus.
      Da im Islam meiner Kenntnis nach keine Beschneidung im Kindesalter gefordert ist, kann ich auch durchaus die Ansicht akzeptieren, daß jeder junge Mann für sich selbst entscheiden kann und soll, ob er beschnitten werden will.
      Im Judentum liegt die Sache aber anders; wer seinem Kind die Beschneidung verweigert, nimmt sich und das Kind heraus aus der jüdischen Familie. Das per Gesetz zu oktroyieren überschreitet die Kompetenzen des laizistischen Staates, des Rechtsstaates ganz allgemein, weil es einem Verbot der jüdischen Religion an sich gleichkommt. Man hat das schon mal gemacht; das Ergebnis ist in den Makkabäer-Büchern nachzulesen. Auch in der Sowjetunion war die Beschneidung verboten; das gehört zu den Merkmalen des Unrechtsstaates.
      Der Staat kann verfügen, daß der Beschneider bestimmte Qualifikationen aufweisen muß (ein Mohel muß ohnehin vielen Kriterien entsprechen), beispielsweise kann er bestimmen, daß der
      Beschneider Chirurg sein muß. Das entspricht dem Schutzauftrag des Staates. Die
      Beschneidung zu verbieten, ist ihm verboten.
      Aus christlicher Theologie heraus haben wir, da muß ich dir entschieden widersprechen, keinerlei Grund und Anlaß, dem Volk aus Abrahams Samen seine Wurzel zu nehmen, im Gegenteil. Das jüdische Volk ist und bleibt das erwählte Volk Gottes, und nur Heidenchristen, nicht aber Judenchristen, sind von den Vorschriften des Gesetzes ausgenommen, selbst im Glauben an Jesus Christus.
      Paulus hat Silas eigenhändig beschnitten. Paulus hat niemals von Judenchristen verlangt, Meeresfrüchte oder Schweinefleisch zu essen. Jesus hat gesagt, er ist nicht gekommen, das kleinste Tüpfelchen des Gesetzes aufzuheben. Wer sind wir, den Juden das Gesetz zu verbieten?

  15. Chrysostomus schreibt:

    Lieber Wolfram,
    wir haben uns angenähert. Du siehst bei der muslimischen Beschneidung kein Problem beim Warten bis zur Volljährigkeit, ich kann mich, sozusagen als realpolitischer Kompromiss, mit der Praxis einer Beschneidung abfinden, wenn sie garantiert schmerzfrei erfolgt – und zwar auch in der Phase der Wundheilung. Das wäre meine Minimalforderung, womit man zumindest leben kann.
    Im grundsätzlichen Denken bin ich jedoch nach wie vor mit Dir nicht einig: Die Unterscheidung, daß im Judentum die Beschneidung eine conditio sine qua non wäre, nicht aber im Islam, mögen wir als Aussenstehende leicht treffen können. Ich glaube aber nicht, daß das eine einfache türkische Familie so ohne Weiteres nachvollziehen kann. Für sie gehört es „gefühlt“ eben auch zum religiösen Gesetz. Von daher ist der im ganzen öffentlichen Diskurs so schnell erfolgte argumentative Schwenk zum Judentum (obwohl das Kölner Urteil eine muslimische Beschneidung betraf) bezeichnend. Man hat weniger die Muslime im Auge, als vielmehr die Juden. Dahinter steckt meines Erachtens erstens ein geringerer Respekt vor den Muslimen und zweitens ein aus dem schlechten Gewissen, welches aus der barbarischen Geschichte des Nationalsozialismus resultiert, genährter Reflex, der das Judentum und seine Traditionen schützenswerter als jene erscheinen lässt. Das beweist ja auch die schon öfters geäußerte Furcht, ob jüdisches Leben nun in Deutschland nicht mehr möglich sein würde. Und türkisches? Für die Türken dürfte sich die Frage ganz subjektiv gleich stellen.
    Ein säkularer Staat kann aber nur ein Gesetz für alle haben. Daher kann es auch nicht funktionieren, den Einen diese Praxis bis zum Erreichen der Volljährigkeit zu untersagen, den anderen aber dieselbe Praxis am Neugeborenen zu erlauben. Wie man liest, wollen die Muslime einen Präzedenzfall schaffen und so weitere juristische Klärungen erzwingen. Das dürfte spannend werden und sicher bis zum EuGh gehen. Dieses ist auch zu begrüßen, denn ein Diskurs darüber sollte schnellstens eben wegen der Nazigräuel aus dem rein deutschen Kontext genommen werden.
    Am Schluß läuft letztlich alles auf die Frage hinaus, wessen Recht höher steht: Das interne Recht einer Religionsgemeinschaft oder das Recht des Staates. Diesen Konflikt kennt natürlich auch das Christentum von Anfang an, er zieht sich über die römischen Christenverfolgungen, den Investiturstreit, die Reformation, Aufklärung und Säkularisation von der Spätantike bis zur Gegenwart wie ein roter Faden durch. Solange ein Staat eine religiös relativ homogene Gesellschaft darstellt, wird natürlich das Finden juristischer Normen stark von den herrschenden religiösen Vorstellungen geprägt sein. Die Sache ist dann recht konfliktfrei. Je pluralistischer eine Gesellschaft wird, desto unmöglicher wird es, allen Interessen gerecht zu werden. Und desto eher muß sich das Recht auf allgenmeine Prinzipien zurückziehen. Zu diesen Prinzipien gehören Religionsfreiheit ebenso wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht keine Mißhandlungen erdulden zu müssen. Nun kollidieren diese beiden Prinzipien. Du bist mit mir einer Meinung, daß der Staat das Recht hat, zum Schutze der Menschen auch in religiöse Praktiken regulierend einzugreifen. Uns trennt nur die Frage, wo diese fragile und wohl stehts schwammige Grenze verlaufen soll.

    Nebenbei: Kindertaufen in eiskaltem Wasser bei eiskalter Kirche sind genauso eine Mißhandlung. Ich habe einige orthodoxe Kindstaufen zur Winterszeit erlebt. Allerdings immer mit einem riesigen Tauchsieder im Taufbecken oder mehreren Kübeln hinzugeschütteten heißen Wassers und sehr genau auf das Badewasserthermometer schauende Frauen.
    Und nein, einen Gottesstaat halte ich nicht für erstrebenswert.

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