Schutz und Hilfe jenseits der Polemik

Gegen den Marsch für das Leben und pauschal gegen alle, die sich eindeutig gegen Abtreibungen aussprechen, wird in teilweise sehr unbedachter Art polemisiert. Die immer wiederholten Vorwürfe lauten:

Lebensschützer sind gegen die Freiheit!
Die Freiheit des Kindes, sich zu entwickeln, wird bei einer Abtreibung für immer zerstört.
Selbstverständlich ist ein Kind ein Eingriff in die Freiheit der Mutter, und in schwächerem Maße auch des Vaters, der Nachbarn, der Onkel, Tanten, Großeltern. Aber das ändert nichts am Lebensrecht des Kindes.

Lebensschützer helfen von der Geburt des Kindes an überhaupt nicht mehr!
Zahlreiche Lebensschützer arbeiten haupt- oder ehrenamtlich in sozialen Bereichen – wozu ich neben Gesundheit und Sozialfürsorge auch die Bildung im weitesten Sinne zähle. Die Katholische Arbeitsgemeinschaft für Müttergenesung und das Evangelische Müttergenesungswerk sind nur zwei Beispiele von vielen – und diese beiden umfassen hunderte von Einrichtungen. Einen Überblick über Hilfeleistungen für Mütter und Familien findet man hier und hier.

Lebensschützer stehen dem Nationalsozialismus nahe!
Wie man die explizite Ablehnung vorgeburtlicher Selektion mit den Schurken in Verbindung bringen kann, die alles umbrachten, was ihnen nicht paßte, ist mir schleierhaft. Im übrigen gibt es zwar auch nationalistische Spinner, die nach eigener Aussage gegen Abtreibung sind. Aber zum einen sind solche Leute in der Regel keinesfalls für den Erhalt behinderten oder sonst nicht in ihr Weltbild passenden Lebens (und damit eben keine Lebensschützer). Zum anderen höre ich schließlich nicht auf, Blumen zu mögen, wenn ich erfahre, daß auch Nazis sich an Blumen freuen.

Leider ist auch die Seite der Lebensschützer von Polemiken und Bosheit nicht frei. Mit Zorn nehme ich wahr, daß manche Lebensschützer ungerechte Anwürfe und sinnlose Agitation gebrauchen – und im Falle einer kleinen fanatischen Gruppe in den USA selbst Gewalt (lt. Wikipedia seit 1977 acht Morde und siebzehn Mordversuche). Das ist unentschuldbar, rettet kein Kind und hilft keiner Mutter. Hingegen lehnt die Dachorganisation der amerikanischen Lebensschützer, die National Coalition for Life and Peace jede Form der Gewalt ab und argumentiert unaufgeregt, vernünftig und im Bewußtsein, daß es Fälle gibt, in denen die Entscheidung für das Kind kaum weniger schmerzhaft ist als dagegen.
In der Lebensrechtsbewegung in Europa tätige Menschen wurden zwar immer wieder Opfer von Angriffen, bedienen sich selbst aber friedlicher und demokratischer Mittel.

Ich halte es nicht für zielführend, mit Photos getöteter Feten hausieren zu gehen (hierzu ein sehr lesenswerter Artikel der Amerikanerin Kristen Walker). Es wird auch zweifelsfrei ein Übermaß an Kitsch produziert (herzige Gebete Ungeborener und dergleichen).
Auch das Verteilen von Plastikembryonen widerstrebt mir. Ich möchte nicht gern die rührend häßliche Niedlichkeit eines schon menschenähnlich aussehenden Embryos zum Hauptargument machen. Denn wachsender Mensch ist schon die überhaupt nicht niedliche eben befruchtete Eizelle oder die wie ein abstraktes Kunstobjekt wirkende Morula. Wenn wir konsequent nur schützen, was niedlich oder schön ist, mißachten wir das Bizarre (auch wenn das einmal niedlich werden soll).

Mir ist es lieber, Menschen ohne Druck auf die Tränendrüse zu überzeugen. Allerdings bleibt das eine Gratwanderung, denn eine völlig unsentimentale Sicht auf kleine Kinder (Füßchen! Fingerchen! Kulleraugen!) ist kaum möglich und auch nicht wünschenswert. Ein Baby soll ja die Herzen erwärmen – es ist seine einzige Möglichkeit der Selbstverteidigung.

Ich werde auf dem Marsch für das Leben gemeinsam mit zahlreichen Leuten gehen, deren politische und religiöse Überzeugung ich nicht vollständig teile. Na und? Weder Demokratie noch Christentum besteht darin, sich ausschließlich mit Leuten zu umgeben, denen man immer und überall hundertprozentig zustimmen kann (sonst wären Demokraten und Christen recht einsam). Mir ist die CDU weder C noch D genug. Gegenüber bestimmten Strömungen im Christentum halte ich mich an den Satz „Man kann die Bibel entweder wörtlich nehmen oder ernst“. Mit Sicherheit werde ich mich an kitschigen und salbungsvollen Bildchen und Äußerungen stören. Aber das ist nebensächlich. Denn es geht dem recht bunten Haufen Lebensschützer nicht vorrangig um eine bestimmte Auslegung von Gen. 1,1-2,6 oder um die Frage nach schulischem Religionsunterricht, sondern um den Schutz des menschlichen Lebens.

Auf anderen Demonstrationen, etwa gegen Atomkraft und für starken Mieterschutz, bin ich auch Menschen begegnet, mit denen ich nicht in jedem Punkt einig bin. Das macht weder die Demonstrationen noch meine Teilnahme zweifelhaft. Die Gefahr, daß ich beim Marsch für das Leben die einzige Teilnehmerin bin, die ihre fünf Sinne beisammen hat und logisch denken kann, besteht nicht. Von der Sorte kommen schon noch mehr zusammen.

Über Claudia Sperlich

Dichterin, Übersetzerin, Katholikin. Befürworterin der Vernunft, aber nicht in Überdosierung.
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8 Antworten zu Schutz und Hilfe jenseits der Polemik

  1. aebby schreibt:

    Danke für diesen Text. Zwei Themen (Abtreibung und Relgionsfreiheit) beschäftigen mich gerade sehr, bei beiden habe ein Gefühl der Zerrissenheit in mir und hadere gedanklich mit den extremen Positionen.

    Deine Worte, insbesonder der nachfolgende Absatz sind gerade sehr hilfreich für mich:

    … Weder Demokratie noch Christentum besteht darin, sich ausschließlich mit Leuten zu umgeben, denen man immer und überall hundertprozentig zustimmen kann (sonst wären Demokraten und Christen recht einsam). Mir ist die CDU weder C noch D genug. Gegenüber bestimmten Strömungen im Christentum halte ich mich an den Satz “Man kann die Bibel entweder wörtlich nehmen oder ernst”. …

  2. Claudia Sperlich schreibt:

    Freut mich sehr, wenn ich in dieser schwierigen Debatte helfen kann!

  3. Josef Gottschlich schreibt:

    Danke, ein packender Text! Mich wühlen diese Themen auch sehr auf, weil eine wirklich gute und nicht zu undifferenzierte Antwort darauf äußerst schwierig ist. Ich habe auch einmal an einem solchen „Marsch“ teilgenommen und bin danach mit sehr zwiespältigen Gefühlen wieder nach Hause gegangen. Mir war diese Art des Lebensschutzes zu aggressiv. Aber es kommt sehr auf die Personstruktur der Verantwortlichen an, die solche Veranstaltungen leiten, die die Texte auswählen und sprechen (und da gibt es leider dann auch „Christen“ und „Demokraten“, in deren Gegenwart man sich sehr einsam fühlen kann, selbst wenn sie recht vernünftige Ziele verfolgen. Ob der Heilige Geist irgendwo wirkt oder nicht – darüber wird mir oft viel zu früh und vorschnell geurteilt). Wobei mir ein SCHWEIGEMARSCH für den Schutz des ungeborenen Lebens angemessener erschiene – je hilfloser die Opfer von Gewalt sind, desto stiller sollte vielleicht auch der Protest dagegen sein. Vielleicht ist aber eine noch bessere „Gegenmaßnahme“, (werdende) Mütter und Kinder im eigenen Nahbereich so gut wie nur möglich zu unterstützen, ihnen viel Zeit zu schenken. –
    Die Geburt meiner kleinen Schwester erwies sich als das mit Abstand glücklichste Ereignis in meiner Kindheit. Wir haben alle um ihre Gesundheit, sogar um ihr Leben gebangt, denn die Schwangerschaft zuvor war sehr problematisch. Solche Erfahrungen sind es, die wohl am ehesten eine Antwort geben können.

  4. Claudia Sperlich schreibt:

    Josef, Dank für diesen Kommentar.
    Ich bin nicht ganz schlüssig darüber, ob man bei einer solchen Demonstration ganz auf das Sprechen verzichten soll oder nicht. Für beides gibt es Argumente.

  5. Alipius schreibt:

    Danke für Deine Überlegungen! Sie sind schön sachlich und persönlich-gaubwürdig. Wird sofort verlinkt 😉

  6. Claudia Sperlich schreibt:

    Dank auch dafür!

  7. Gerd schreibt:

    >>Ich halte es nicht für zielführend, mit Photos getöteter Feten hausieren zu gehen<<

    Hausieren halte ich in diesem Zusammenhang für den falschen Ausdruck. Man kann Dr. Nathanson ja nicht vorwerfen, dass er mit seinem Film "Der stumme Schrei" ein Hausierertum gepflegt hat, sondern ging es ihm um ungeschönte Aufklärung. Ich erinnere an die Allierten, die nach dem Weltkriegen Teile der deutsche Bevölkerung durch die K.Z. führte, nicht um zu hausieren, sondern die Greueltaten offen zu legen. Es ist in gewissen Momenten unerlässlich auch in Bildern oder Filmen Aufklärung zu betreiben ohne dass jemand gleich dieses in Verbindung mit Hausierertum bringt. Denn: Die Mehrheit der Bevölkerung hat mitnichten davon eine Ahnung, was bei einer Abtreibung vorgeht. Meine Erfahrungen diesbezüglich: Reden über das Lebensrecht des Kindes, über den Anfang menschlichen Lebens und die nachfolgende Entwicklung lösen beim unbedarften Zuhörer oft Unverständnis aus, weil das ungeborene Kind nicht gesehen und somit auch nicht wahrgenommen wird. Das Bild eines abgetriebenen Kindes wird bei diesen Zuhörern in jedem Fall (eigene Erfahrung) ein Umdenken bewirken.
    Ansonsten volle Zustimmung zu diesem Artikel.

  8. Claudia Sperlich schreibt:

    Das ist ein gutes Argument.
    Mir geht es nach wie vor anders damit. Wenn ich das Bild eines zerrissenen Babys sehe – oder auch eines ermordeten Erwachsenen -, dann komme ich mir voyeuristisch vor und denke mir, man hat vielleicht mit diesem Vorzeigen dem Menschen noch im Tod die Würde geraubt.
    Kristen Walker schreibt in dem verlinkten Artikel ja sehr differenziert zu diesem Thema. Ich gebe ihr Recht, daß diese Art der Aufklärung nicht an erster Stelle stehen sollte, sondern anderen Argumenten folgen sollte.
    Die Aufnahmen von Leichenbergen in KZs, von abgemagerten Gefangenen und auch die Führungen waren ja auch nicht das erste Argument – das erste, bittere und unmittelbar einleuchtende Argument gegen die Nazis war der verlorene Krieg. Natürlich ist „Wer Unrecht tut, verliert“ im Rang ein bestenfalls zweitklassiges Argument. Aber es ist das, was unmittelbar einleuchtet.

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